Elise is performance artist and researcher. She is part of the artistic-academic postgraduate programme Assemblies and Participation: Urban Publics and Performance. Elise attended the English version of LFEO at a Bio Catering in Berlin.
Auf dem Weg zu Lecture For Every One frage ich mich, ob ich eigentlich auf dem Weg zu einer Aufführung bin. Meine Erwartung richtet sich auf jeden Fall darauf, in erster Linie als Zuschauerin oder Zuhörerin einer Kunstarbeit beizuwohnen. Ich bin darauf eingestellt, aufnahmebereit zu sein und Erfahrungen zu machen, ästhetische Erfahrungen; nicht unbedingt, neues zu erfahren, aber etwas anders zu erfahren. Diese Erfahrung ist für mich dabei Selbstzweck, sie ist nicht an äußere Aufgaben, Funktionen und Ziele gebunden. Zugleich werde ich sie aber auf die äußere Welt beziehen und Erkenntnisse über meine Lebenswirklichkeit suchen. Ich werde die Rahmung, das Format, die Entscheidungen der Künstlerin reflektieren.
Ich denke an die Menschen, auf die ich bald treffen werde – Mitarbeiter_innen eines Bio Catering. Ich frage mich, was sie gerade tun, wie ihr Alltag aussieht. Sind sie gestresst, machen sie ihre Arbeit gerne, welche Erwartungen haben sie an das Teammeeting, das Sarah gleich annektieren wird? Welche Aufgaben, Funktionen und Ziele hat dieses Meeting für sie? Schauen die Mitarbeiter_innen Kunst und wenn ja, welcher Art? Werden sie die Lecture als Kunst wahrnehmen? Mir fällt auf, dass einige Gemeinsamkeiten zwischen uns als zukünftige Zuschauer_innen der Lecture For Every One wegfallen, die ich bei einem Theaterbesuch üblicherweise voraussetze. Denn die Mitarbeiter_innen des Bio Caterings haben sich für einen bestimmten Zweck versammelt, das Meeting hat eine Funktion in ihrem Arbeitsalltag. Sie haben sich nicht dafür entschieden, Kunst zu rezipieren. Sie sind nicht auf den üblichen Verteilerwegen des Theaters auf die Lecture aufmerksam geworden, haben nicht auf eine Rundmail, ein HAU-Plakat oder die Einladung einer Kollegin reagiert. Sie haben vermutlich nicht über einen längeren Zeitraum am Diskurs des Theaters teilgenommen, haben sich nicht für eine spezifische Ästhetik oder ein Thema entschieden. Und – anders als ich, die ich gerade an einer Bushaltestelle auf Sarah und ihre Kollegin warte – erwarten sie nicht, bereiten sie sich nicht darauf vor, eine ästhetische Erfahrung zu machen.
Ich frage mich, was meine Position als Augenzeuge in diesem Kontext bedeutet. Der Zeuge spricht im Namen von etwas anderem oder jemand anderen zu Jemanden, der seinen Bericht aufnimmt. Seine individuelle Wahrnehmung trifft mit einer kollektiven Erzählung zusammen. Zeugenschaft stellt Bezüge zu anderen Zeiten und anderen Orten her, kann eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Personen, Wirklichkeiten und Diskursen sein. Und so könnte es meine Funktion sein, eine Kontaktzone herzustellen zwischen dem Kontext, in dem die Lecture For Every One entstanden ist (einem Kunst- und Performancekontext) und dem Kontext, in dem sie stattfindet (dem Teammeeting des Bio Caterings). Ich bin also eine Art “Zuschauerin zweiter Ordnung”, nicht direkt angesprochen, aber anwesend, nicht Teil der Versammlung, aber ihre Beobachterin. Ich vermittle meine Wahrnehmungen der Versammlung an ein abwesendes Publikum, an eine weiter gefasste Öffentlichkeit.
Das Teammeeting findet zur Mittagszeit draußen statt, in einem Innenhof. Der Arbeitsalltag bleibt daher während der Lecture beständig sichtbar; ein Auto fährt vor und lädt etwas aus, jemand kommt aus der Tür und hört ein wenig zu, während er eine Zigarette raucht. Sarah adressiert ihr Publikum, in dem sie jeden persönlich anspricht, sie schaut in die Gesichter, beschreibt die Körper. Sie schafft vorsichtig einen intimen Rahmen, in dem die unvorhergesehene Ansprache, der ungebetene Besuch beinah wie ein individuelles Geschenk wirkt. Und es ist spürbar, dass die Zuhörer_innen sich angesprochen fühlen. Sie antworten auf Fragen, reagieren persönlich. Mir wird bewusst, wie sehr die Rahmung des Theaters auch einen Abstand schafft, aus dem heraus man sich eher global gemeint sieht, als direkt angesprochen. In der Mittagspause, im Hinterhof entsteht eine Atmosphäre, in der das Gesagte ganz unmittelbar auf die Zuhörer_innen bezogen zu sein scheint. Es ist daher auch nur folgerichtig, dass Sarah völlig ironiefrei die großen Fragen des Miteinander-Lebens anspricht: Fürsorge, Freiheit, Liebe. Ich frage mich, was die Zuhörer_innen mit diesen Fragen verbinden; haben sie ihr Arbeitsumfeld bewusst gewählt, weil das nachhaltige Produzieren Fürsorge, Freiheit und Liebe vorsieht, einbezieht, umsetzt? Haben sie in ihrem Arbeitsalltag Zeit und Kraft, darüber nachzudenken? Fehlen ihnen diese Dinge? Fühlen sie sich aufgefordert, etwas in ihrem Alltag zu verändern? Sarah erwähnt andere Kontexte, in denen sie über dieselben Begriffe spricht. Wie klingen sie in den Ohren von Finanzberaterinnen, Diplomaten oder Krankenpflegern? Und wie würden sie auf einer Theaterbühne klingen?
Auf dem Weg zurück denke ich über die verschiedenen Versammlungsorte in Berlin nach, die nun über die Lecture For Every One miteinander verbunden sind. Ich denke an die Mitarbeiter_innen des Bio Caterings; obwohl ich kaum etwas über sie weiß, haben wir heute Erfahrungen miteinander geteilt. Wie fühlen sich die gewohnten Handgriffe nun an? Hat sich etwas im Arbeitsalltag verändert?