Eyewitness Marijke Hoogenboom, about KAO & Rotary Club

Marijke is a German-Dutch Professor at the Amsterdam School of the Arts, leading the Performing Arts in Transition research group. Marijke attended the German version of LFEO at KAO and at the Rotary Club in Darmstadt.

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Lecture For Every One in Darmstadt, am 29. und 30. Juli 2014
Marijke Hoogenboom

Ich wurde eingeladen Augenzeuge zu sein bei der in Brüssel entwickelten Lecture For Every One. Ich hatte viel von dem Projekt von Sarah Vanhee gehört („Theater ohne Bühne“), es im Internet verfolgt („Eyewittnesses anstatt Zuschauer“) und nun war es plötzlich in meiner Heimatstadt Darmstadt angekommen, wo ich Ende Juli zufällig zu Besuch war. Allerdings brauchte es zwei Anläufe, bis es zur ‘Aufführung’ kam. In diesem Sinne wurde ich Zeugin von zwei sehr unterschiedlichen Begegnungen: einer verunglückten und einer geglückten Lesung für Jedermann.

Unsere erste Verabredung war in der Europazentrale des japanischen Chemie- und Kosmetikunternehmens KAO. Ein unscheinbares Firmengelände am Rande der Stadt, erst beim Eintreten zeigte sich der Stil und der klimatisierte Qualitätsanspruch des Multinationals. Ziel war das Meeting eines R&D Teams aus der chemischen Forschung, das in einem der zahlreichen Konferenzräume im R&D Gebäude zusammengekommen war. Wie immer hatte LFEO nur einen einzigen Mitarbeiter eingeweiht, der auch die Zustimmung der Direktion, des Marketing etc. eingeholt hatte. Seine Bemühungen waren in diesem Fall allerdings vergeblich, unerwarteterweise war LFEO nicht willkommen. Eine Kollegin hatte große Bedenken und verhinderte den Überraschungs-Vortrag spontan. Ein Einschätzungsfehler oder beabsichtigtes Schicksal dieses ungewöhnlichen Kunstprojektes?
Für mich war bei KAO in nur wenigen Minuten und nach wenigen Sätzen deutlich, welches Risiko Lecture For Every One eingeht. Als Performance, als Intervention, als Begegnung. Sie geht jedes Mal das Risiko ein, abgelehnt zu werden. Schließlich drängt sie sich ungefragt auf, bricht überraschend in fremde Situationen ein, stört mutwillig (sorgfältig geplante) Zusammenkünfte.

Und dennoch: Obwohl es nicht gelang den KAO Mitarbeitern LFEO zu präsentieren, passierte etwas Bemerkenswertes. Direkt nach der Ankündigung unseres freundlichen ’Vermittlers’ (die Performerin stand schon bereit) fand in Sekundenschnelle eine interne, für uns Beobachter kaum wahrnehmbare, Verhandlung zwischen den erschrockenen Team Kollegen statt. Konnte man sich eine solche Intervention leisten? Was war der Preis für die ungebetene Unterbrechung? Würde sich eine Zustimmung lohnen? Welche Abwägungen gab es zu machen? Wer darf entscheiden und wer setzt sich durch?
Das ausschlaggebende Argument gegen LFEO war eine beklemmende Kalkulation der verfügbaren Zeit. Manchmal scheinen eben auch fünfzehn Minuten zu kostbar, um dafür die Tagesordnung eines Meetings aufs Spiel zu setzen. Aber wer weiß, vielleicht hat LFEO ja dennoch Spuren bei den KAO Mitarbeitern hinterlassen und hat sich der eine oder andere im Nachhinein gefragt, wie er/sie persönlich mit Überraschungen umgeht, oder ob Zeit und Geld wirklich so wenig Freiraum für Abwege lassen.
Bei meiner zweiten Adresse in Darmstadt, dem lokalen Rotary Club, gab es ganz andere Voraussetzungen. Diesmal handelte es sich nicht um professionelle Arbeitszeit die LFEO kapern wollte, sondern um Freizeit. Freizeit, die im gepflegten Ambiente eines Weinrestaurants verbracht wird und gerne mit gesellschaftlichen oder kulturellen Themen. Die Teilnehmer sind älter, gelassener offensichtlich, großzügiger mit sich selbst und anderen. Das gemeinsame Abendessen ist gerade beendet. Wir werden mit freundlichem Applaus begrüßt. Wurde hier in der (wie überall kurz vor dem Auftritt eingeschobenen) Ankündigung bereits ein Versprechen gegeben? Das Versprechen von Kunst und Kultur? Ist der Überraschungsangriff von LFEO damit auch unmittelbar ungefährlich geworden? Ein folgenloses Spiel auf das man sich gerne einlässt?
Auch ich höre nun den Text der LFEO zum ersten Mal. Und auch ich kann mich – wie die meisten Rotary Mitglieder – dem Einfluss der Lesung nicht entziehen. Wort für Wort, Satz für Satz werde ich vom geladenen Zeugen zum Teilnehmer. Vom Gast zum Mitbürger. Aus ich wird wir. Aus Gesicht und Körper (wie die Performerin Katja Dreyer uns zunächst anspricht) wird Seele und Herz. Mit dramaturgischem und sprachlichem Geschick lotet LFEO den Abstand zu ihrem unfreiwilligen Publikum aus, fragt nach („wissen Sie mehr als ich?“), schafft vorsichtig Nähe, Intimität sogar, und wenn von ’Care’ (Fürsorge), Freiheit und Liebe die Rede ist, geht es ans Eingemachte.
Zunächst fühle ich mich persönlich betroffen, fühlen wir uns, in diesem Moment, an diesem Ort, ganz direkt angesprochen: auf unsere Entscheidungen, unsere Sehnsucht, unsere Verantwortung. Doch dann gelingt LFEO etwas Erstaunliches. Beinahe nebensächlich erfahren wir, dass dieser Vortrag genau so, an anderen Tagen, an anderen Plätzen in Darmstadt, bei anderen Versammlungen aufgeführt wurde. Stille. Uns wird bewusst, wie fragmentiert diese Stadt ist, wie zergliedert in Gruppen, Spezialisten, Klassen. Wie sehr wir selber dazu beitragen, dass aus den Teilen kein Ganzes wird und jeder an seinem angestammten Ort bleibt. Oder doch nicht? Ist etwas anderes – eine andere soziale Ordnung – möglich? „Wir sind davor, wir sind davor, wir sind davor“ suggeriert LFEO.

Einige Tage nach den Ereignissen bei KAO und dem Rotary Club bin ich selbst zu einer Versammlung gegangen, Thinking Together, das Rahmenprogramm für den Darmstädter Architektur Sommer am Osthang der Mathildenhöhe. Und während ich halbherzig einer anspruchsvollen Lesung über den Zusammenhang zwischen Jugendstil und Post-Kolonialisierung zuhörte, ertappte ich mich bei der Vorstellung, LFEO würde hier unvermutet eingreifen und den Redefluss der ganz auf ihr Thema konzentrierten Gastdozentin unterbrechen. Mit all seiner Konkretheit, Direktheit und Menschlichkeit würde uns LFEO aus der Gleichgültigkeit reißen und augenblicklich – verbindlich – zusammenführen… In diesem Sinne hat mich LFEO infiziert. Infiziert mit der Vorstellung, sie könnte jederzeit, an jedem Ort auftauchen, und jede Zusammenkunft zu einem glücklichen Moment der Gemeinsamkeit werden lassen.